Er reagierte nicht auf Ansprache. Wenn er die Augen öffnete, schaute er durch uns hindurch. Kommunikation war zunächst nicht möglich. Es gingen mehrere Tage ohne Veränderungen ins Land. Wir reduzierten sedierende Medikamente und hofften, dass sich bei Michael irgendetwas tun würde. Das tat es dann auch. Ich ging wie jeden Morgen zur Pflege in sein Zimmer. Vor der Grundpflege sprach ich ihn an und hatte das Gefühl, dass er mich nun kurze Zeit fixierte. Alle meine pflegerischen Handlungen kündigte ich ihm wie immer vorher an. Ich hielt ihm sein T-Shirt hin und er hob den Kopf. Beim wiederholten Drehen seines Körpers bekam ich das Gefühl, dass er etwas mithilft. Wir setzten ihn in den folgenden Tagen immer wieder auf die Bettkante. Dort hing er wie der sprichwörtliche „Schluck Wasser in der Kurve“. Nach einigen Tagen bemerkten wir auch hier Verbesserung und so stellten wir ihn auf die Füße. Ich schob von hinten an seiner Schuhsohle und wie automatisch folgten ein paar Schritte. Er wurde täglich in den Rollstuhl mobilisiert und seine Oberkörperhaltung wurde immer stabiler.
Die Unterstützung der Angehörigen wirkte Wunder
Wie gut es ist, dass Michael eine so tolle Familie hat. An jedem Tag kam eine/r seiner Angehörigen und kümmerte sich liebevoll um ihn. Seine Lebensgefährtin Heike war auch fast täglich bei ihm. Meiner Meinung nach hat auch der Zusammenhalt innerhalb der Familie sehr zu Michaels Genesung beigetragen.
Als er eines Mittags wieder Besuch von seiner Heike bekam, wirkte er erstaunlich wachsam. Ich setzte ihn in seinen Rollstuhl und Heike nahm neben ihm Platz. Er hob seine linke Hand und legte sie auf ihren Arm. Heike schaute mich an und lächelte. Kurz danach lehnte Michael sich zu ihr hinüber, hob den Arm und legte ihn auf ihre Schultern. Da war es natürlich mit unserer Fassung vorbei und uns kamen vor Freude die Tränen.
Das Sprachtraining zeigte schnell Wirkung
Wir hatten damit begonnen Michael, an ein „Sprachventil“ zu gewöhnen. Anfangs gestaltete sich dies schwierig. Er Hustete sehr häufig. Langsam gewöhnte er sich daran und so beschlossen wir mit ihm das Lautieren zu üben. Er sollte sich räuspern und dann in ein Summen übergehen. Dies tat er prompt. Ich versuchte ihm Laute zu entlocken, indem ich mich vor ihn setzte und ihm vorsummte. Wahrscheinlich dachte er, dass die, die da vor ihm sitzt, nicht alle Tassen im Schrank hat. Eines Tages saß er mit seiner Schwester im Garten und plötzlich rief er ein lautes „HALLO“ aus. Wir waren alle begeistert und klatschten Applaus. Ich muss zugeben, mir kamen die Tränen. Peinlich berührt schaute ich mich um und bemerkte, dass es bei meinen Kolleginnen nicht anders war. In den kommenden Tagen kamen immer mehr Worte aus seinem Mund, noch ein paar Tage später waren es ganze Sätze und ab dann war er nicht mehr zu bremsen. Ich hatte oft den Eindruck, dass er nun alles, was er nach seinem Unfall nicht mehr sagen konnte, nachholte.
Er berichtete uns, dass er sehr schlecht sehen könnte und zudem noch alles doppelt. Der Augenarzt erklärte uns dann, dass die Probleme eine neurologische Ursache haben und wir Geduld haben sollten.
Michael hatte nun viel Auslastung und wurde motorisch ruhiger. Daher begannen wir nun verstärkt mit dem Lauftraining. Seine Beine wurden schnell stärker und sein Gangbild immer sicherer. Sorgen machten uns noch die Arme, insbesondere der rechte Arm. Er bewegte ihn kaum und nutzte ihn nicht. Wir legten deshalb unser Augenmerk fortan vermehrt auf sein Armtraining. Michael war sehr motiviert und schon bald wurde sein rechter Arm kräftiger, sodass er sich beim Lauftraining auch am Handlauf festhalten konnte. Dies klappte so gut, dass wir auch mit Treppentraining beginnen konnten. Die erste Stufe absolvierte er sehr zögerlich, aber plötzlich raste er los. Wir mussten uns richtig beeilen, um mit Michael mitzuhalten. Irgendwie kamen wir alle heile am Treppenabsatz an und mussten dann herzlich lachen.
Gutes Essen als Motivation
Michael machte auch immer mehr Fortschritte mit seiner Sprache: Er konnte Atmen, Sprechen und Schlucken gut koordinieren und sprach immer deutlicher. Wir übten anschließend das Schlucken von aufgeschäumten Getränken. Dies funktionierte einwandfrei also steigerten wir den Schwierigkeitsgrad mit Götterspeise. Diese zählt nicht unbedingt zu Michaels Leibspeisen, aber er kooperierte mit uns. Auch hier gab es kein Problem und so organisierten wir im März einen Termin beim HNO-Arzt unseres Vertrauens. Michaels Schwester brachte am Morgen des Termins eine selbstgemachte Frikadelle mit. Sie sagte mir, dass Michael diese immer sehr gerne gegessen hat. Ich fand, das sei ein guter Ansporn für Michael, sich beim Schlucktest richtig Mühe zu geben. Ich sagte ihm auf dem Weg zum Arzt immer wieder: „Denk an die Frikadelle.“ Dies tat er auch und so verlief der Schlucktest tadellos. Nach dem erfolgreichen Schlucktest überreichte ich Michael seine wohlverdiente Frikadelle und er strahlte über das ganze Gesicht. Dieses Lächeln werde ich nie vergessen! Von nun an durfte er Nahrung in jeder Konsistenz zu sich nehmen. Da seine Schwester eine Metzgerei und Partyservice besitzt, sorgte sie immer für Nachschub an den besten Leckereien. Ich sagte zu ihm, dass ich mir auch so einen Kühlschrank wünschte, der nie leer wird. Michael lachte.
Mitte Mai wurde ein Termin in der Lungenklinik in Hemer zur Dekanülierung vereinbart. Da Michael einen gesegneten Appetit und dank seiner Familie immer einen vollen Kühlschrank hatte, war die Entfernung der Ernährungssonde der logische nächste Schritt.
Durch das gute Essen war Michael natürlich motiviert, selbst mit dem Besteck die Feinmotorik seiner Arme und Finger zu trainieren. Es war bald kein Problem mehr für ihn, die leckeren Steaks selbst klein zu schneiden. Ich muss zugeben, dass ich beim Erwärmen seiner Speisen manchmal Hunger verspürte. Aber auch wir Mitarbeiter*innen in Hövel gingen nicht leer aus: Michaels Schwester spendierte für alle die leckerste Fleischwurst der Welt.
„Wir alle haben Michael ins Herz geschlossen.“
Da sich Michael so gut entwickelte und seine Behandlung so große Fortschritte erbrachte, mussten wir uns Ende Juni schweren Herzens von ihm trennen. Es ist eine große Freude, wenn man bei seiner Arbeit solche Erfolge beobachten kann. Aber der Abschied fiel uns schwer. Wir alle haben Michael ins Herz geschlossen.
Für Michael beginnt nun ein ganz neues Leben. Auf einer Trage liegend kam er in unserer WG Sundern an und mit einem breiten Lächeln im Gesicht verlässt er uns nun zu Fuß. Nicht nur gesundheitlich hat sich Michaels Leben gewendet, auch privat beginnt für ihn eine neue Phase: Michael und Heike wollen heiraten. Noch in der Wohngemeinschaft machte er ihr einen Antrag und sie antwortete mit einem begeistern „Ja“. Wir wünschen den beiden alles Gute für ihre gemeinsame Zukunft. Wir werden Dich, lieber Michael, nicht vergessen.
Geschrieben von Sabine Henke (Pflegefachkraft)